Viele haben den Traum, mit ihrem Boot den Atlantik zu überqueren. Unser Gastautor Egmont M. Friedl hat es gewagt. Friedl ist in den USA gestartet und ist mit seiner GAVDOS bis nach Europa gesegelt. In diesem Gastbeitrag berichtet der passionierte Buchautor, Rigger, Segler, Skipper und Bootsbauer über seine fesselnden Abenteuer während seiner Atlantiküberquerung.
New York mit dem Boot
Die schönste Art nach New York zu kommen bietet ganz gewiss ein Segelboot. Wer das Glück hat, den Big Apple auf eigenem Kiel anzusteuern, entgeht nicht nur den Autostaus und einer ermüdenden Massenabfertigung. Denn mit dem Wind von der Lower- in die Upper-Bay zu kreuzen, dann die Freiheitsstatue und dahinter die Skyline von Manhatten auftauchen zu sehen, ist ein wahrhaft würdevoller und traditionsreicher Empfang in dieser von Wasser umgebenen Megacity. Natürlich dauert alles etwas länger auf einem Segelboot. Vier Tage waren Johannes und ich weit draußen vor der US- Ostküste nach Norden gesegelt, ein kleiner “Shakedown“, ein letzter Test. New York ist nicht nur ein tolles Ziel, die Stadt bietet auch die beste Kulisse um die Leinen wieder loszuwerfen und über den Atlantik nach Europa zu segeln und genau das hatten wir vor. Dazu liegt New York genau richtig auf 40° Nord, 3000 Meilen gegenüber der Küste Portugals und somit genau in der Westwinddrift. Hier ziehen die Tiefs über den Atlantik, die für wechselhaftes Wetter sorgen, ganz anders als der Nordost-Passat, der weiter südlich dem Segler weitgehend beständigen Rückenwind auf der Passage in die andere Richtung, in die Karibik bietet. All das sollten wir noch zu spüren bekommen und zwar mehr als uns lieb war.
New York New York - ® Egmont M. Friedl
Ansteuerung nach New York - ® Egmont M. Friedl
Ein gutes Jahr zuvor hatte ich in Annapolis, in der Nähe von Washington, ein knapp 10 Meter langes Segelboot für diese Unternehmung gekauft. Bei meinem mittlerweile zehnten Boot fiel meine Wahl auf eine sehr robuste, 33 Jahre alte Westsail 32, ein Doppelender nach dem Vorbild Colin Archers, ein richtiges Blauwasserboot, das ich GAVDOS taufte. Pläne für eine West-Ost-Atlantiküberquerung spukten allerdings schon länger in meinem Kopf herum. Endlich wurde es ernst. Einen Sommer segelte ich mit Frau und Kindern in der Chesapeake Bay, in Maryland und Virginia, dann konnte es losgehen. Anstatt die weite Fahrt einhand anzugehen, lud ich meinen Freund und YACHT-Kollegen Johannes Erdmann ein, mitzukommen. Er kannte, genau wie ich, bereits die Passatroute hinüber in die Karibik, hatte aber noch nie den Kurs zurück über den Teich eingeschlagen. Der Spruch „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ könnte genauso gut heißen „Drum prüfe, mit wem du segelst…“, besonders wenn man tage- ja wochenlang auf engem Raum eingesperrt, nicht nur miteinander auskommen, sondern auch die unvermeidlich auftretenden Schwierigkeiten meistern muss. Man sollte nicht leichtfertig mit jemanden in See stechen, von dem man nicht weiß, ob er in kritischen Situationen einen kühlen Kopf bewahren kann. Bei Johannes hielt ich diese Sorgen für überflüssig und täuschte mich nicht. Erst einmal zuvor hatte ich selbst eine größere Überfahrt, auch eine Atlantiküberquerung, auf dem Boot eines anderen angetreten. Bei Patrick, einem Franzosen, Yachtkonstrukteur von Beruf, hatte ich ebenfalls das sichere Gefühl, dass dieser Mann nicht zu Hysterie oder anderen Irrationalitäten neigen würde, sollte es einmal hart auf hart kommen. Patrick konnte man vertrauen und ich schätzte ihn so ein, dass er im Fall der Fälle um sein Boot kämpfen und nicht so leicht aufgeben würde. Das war mein wichtigstes Kriterium und das wäre es auch heute noch. Zudem hatte Patrick seinen eleganten 50-Fuß Stagsegelschoner acht Jahre lang fachmännisch mit eigenen Händen gebaut. Auch das sagt viel über Willensstärke aus. Nicht viel anders war meine eigene Situation mit dem neuen Boot: Mein ganzes Geld steckte darin. Ich würde das Boot doch niemals aufgeben nur weil der Mast bricht oder irgendetwas ausfällt, was auch immer es sei. Mit Versicherungen hatte ich noch nie etwas am Hut und halte auch nicht viel davon. Wer wie wir segelt, sollte sich meiner Meinung nach soweit irgend möglich um seine Sicherheit selbst kümmern. Eigenverantwortung nennt sich das.
GAVDOS - Starker Rumpf, sicheres Ruder - ® Egmont M. Friedl
New York mit dem Boot - ® Egmont M. Friedl
Das Risiko auf See
Schließlich, nach drei Tagen in New York, legen wir ab, schmeissen die Leinen im Hudson River los, segeln hinaus, wieder an der Freiheitsstatue vorbei und gehen auf Kurs Ost, vorbei am berühmten Ambrose Lighthouse. Es ist erstaunlich wie schnell die riesige Stadt hinter uns verschwindet und wir völlig allein sind. Nächsten Tag lassen wir 40 Meilen nördlich von uns auch die letzte Spitze von Long Island, Montauk, achteraus, später liegen die gefährlichen Nantucket Shoals ebenfalls im Kielwasser. Nebel und Gegenwinde prägen diese ersten Tage, aber so richtig draußen auf dem Ozean ist man erst, wenn man den Kontinentalsockel verlässt. Was ist das Wichtigste in einem kleinen Boot da draußen? Klar, dass es nicht untergeht! Ein stabiler Rumpf ist das A und O, sowie Kiel und Ruder, die auch bei Kollissionen kein Leck verursachen können, erhöhen die Sicherheit ungemein. Hier bietet ein Langkieler mit angehängtem Ruder einfach viel größere strukturelle Festigkeit als jeder Finnkieler, eventuell gar mit freistehendem Balanceruder. Auch Deck, Luken und Fenster müssen allesamt so solide sein, dass sie dem Seeschlag standhalten können. Dies und eigenes richtiges Verhalten vorausgesetzt, kann nicht viel passieren, was eine tatsächliche Gefährdung wäre. Der Mast mag brechen, da kann ein Notrigg improvisiert werden, Zeit und Seeraum hat man genug. Geräte, Motor, Elektrik und Elektronik mögen allesamt ausfallen, das ist noch kein Notfall. Zur Positionsbestimmung kann man ein batteriebetriebenes Hand-GPS als Backup mitführen. Erst wenn der Kahn untergeht, wird man um Hilfe bitten, in die Rettungsinsel steigen und das EPIRB aktivieren. Zwei weitere Szenarien gibt es allerdings, die ebenfalls einen Hilferuf rechtfertigen: Medizinische Notfälle, zu denen auch besonders schwere Fälle von Seekrankheit zählen, die lebensbedrohlich sein können und Mangel an Trinkwasser und Nahrung. Seekrankheit ist für uns kein Thema, aber für den Fall, dass unser Herd irreparabel kaputt geht, habe ich vorsorglich einen simplen Esbit-Kocher dabei, denn Pasta und Reis schmecken roh nicht so gut… Zu den nicht völlig auszuschließenden Restrisiken zählen extreme Zerstörungskraft z.B. durch Hurrikans oder Monsterwellen sowie schwere Kollissionen z.B. mit treibendem Container, Schiff oder Wal. Das alles liegt aber ungefähr bei gleicher Wahrscheinlichkeit wie durch die Stadt zu laufen und von einem herabfallenden Dachziegel erschlagen zu werden.
New York mit dem Boot - ® Egmont M. Friedl
Ansteuerung nach New York - ® Egmont M. Friedl
Alltag unter Segel
Wer jetzt glaubt bei einer solchen Ozeanüberquerung würde man ständig ums Überleben kämpfen, könnte ferner der Wahrheit nicht sein. Das Gegenteil trifft eher zu, man liegt gewöhnlich untätig in der Sonne, schaut stundenlang auf die Wellen und den endlosen Horizont, wird durch die unablässige Schaukelei in Müdigkeit und Faulheit gewogen. Dazwischen gilt es abwechselnd zu kochen, zu schlafen, mal ein- oder auszureffen. Das Boot steuert sich mit der Windfahne selbst, manchmal muss der Kurs angepasst werden. So lax ist der Alltag auf See in Wirklichkeit. Da fast immer einer schläft, während der andere wach ist, sieht man sich gar nicht so häufig, wie man meinen könnte. Allerdings praktizieren wir einen etwas ausgklügelteren Wachwechsel als das starre vier Stunden „on“, vier Stunden „off“-System. Jeder hat abwechselnd eine kürzere und eine längere Nachtwache und während einiger Stunden am Tag sind beide wach. Dazu muss hin und wieder die Uhrzeit an Bord angepasst werden, denn wer nach Osten segelt, sieht die Sonne jeden Tag etwas früher über den Horizont steigen und nach jeden 15 Längengraden ist es eine Stunde früher geworden. Bei dieser entspannten Routine werden zwei Ereignisse schnell zum Höhepunkt eines jeden Tages: erstens das Essen und zweitens der Wetterbericht. Über das Kurzwellenfunkgerät können wir eine Wetterkarte empfangen, die sich ganz langsam am Laptop-Bildschirm dank kostenloser Demo-Software darstellen lässt. Doch was wir dort nach ungefähr einer Woche auf See sehen, gefällt uns gar nicht.
Proviant an Bord - ® Egmont M. Friedl
Salon der Gavdos - ® Egmont M. Friedl
Gegen den Wind
Gegenwinde sehen wir dort angekündigt, tagelang ohne Aussicht auf Besserung. Eine Reihe Tiefs etwas südlich von uns ist im Anmarsch mit Sturmwarnungen. Jedes Tief auf der Nordhalbkugel dreht gegen den Uhrzeigersinn und hat somit nördlich des Zentrums Ostwinde. Ganz logisch, was aber tun? Wir bolzen gegenan so gut es geht. Es ist ein wirklich seltsames Gefühl mitten auf dem Atlantik gegen die Wellen und den Wind anzusegeln, denn ab 6 Bft mit entsprechendem Wellengang kommt ein Boot unserer Größe kaum mehr von der Stelle. Und dabei liegen noch weit über tausend Meilen bis zu den Azoren, dem nächsten Land, vor unserem Bug. Immer wieder hatten wir gehofft dass der morgige Tag der letzte mit Gegenwind sein würde, aber wir wurden stes von der nächsten Wetterkarte aufs Neue enttäuscht: Weitere Tage mit Gegenwind 5-7 Bft… Folgende Schäden sind eingetreten: 1. Radarantenne hat sich an ihrer Befestigung losgerissen, wird geborgen und unter Deck gestaut, nicht schlimm. 2. Riss im Großsegel nahe der ersten Reffbahn, nähe es mit 1mm Dyneema von Hand, das hält. 3. Brennstoffleitung am Herd hat sich losgerissen, kann mit viel Fingerspitzengefühl repariert werden. Unsere Etmale, die täglich zurückgelegten Distanzen, sind ganz schön geschrumpft, statt 130 oder 150 Meilen, wie bei guten Bedingungen, sind wir unserem Ziel in den letzten Tagen nur um jeweils 60 oder gar 40 Meilen näher gekommen.
Schöner Blick nach achtern, Sonne und Rückenwind - ® Egmont M. Friedl
Sturmfahrt
Am zehnten Tag unserer Fahrt schreibe ich in mein Logbuch: Wir versuchen weiter hoch am Wind Osten gutzumachen. Wir laufen nach Südost, dann wieder wenden und Kurs Nordost. Ein Tief zieht auf uns zu. Die Wetterkarte spricht von „developing gale“ und so kommt es auch. Immer stärker wird der Ostwind als die Sonne untergeht. GAVDOS bleibt am Wind, doch nachts als es zu viel wird, drehe ich bei: Das dritte Reff ist im Groß, ein kleines Dreieck des Yankees steht back und die Pinne lasche ich in Lee fest. Jetzt liegen wir etwas ruhiger, kommen sogar mit einem halben Knoten immer noch nach Osten voran, doch es wird trotzdem ungemütlich als das Tief noch stärker wird. Draußen krachen die Wellen gegen den Rumpf, drinnen machen sämtliche Gegenstände, die nicht niet- und nagelfest sind einen Höllenlärm. Ein Blick hinaus zum Niedergang zeigt nur weiße, unermüdliche Wellenkämme. Noch dazu entdecken wir etwas Wasser über den Bodenbrettern, nichts Ernstes wohl, denn die Bilge ist leer, aber schön ist es trotzdem nicht.
Als nach einer langen Nacht mit 8 Bft der Morgen graut, sieht es nicht besser aus. Langsam driften wir Richtung Südsüdost. Manchmal flaut der Wind etwas ab, mal für eine halbe Minute, später dann mal für eine Minute. Darf man hoffen? Tatsächlich, gegen 10 Uhr bleibt der Wind weg. Jetzt treiben wir, schaukeln wie wild über die Wellen, können überhaupt nicht mehr steuern, während das Windex im Topp durch den heftigen Ausschlag des Masts permanent im Kreis herumgeworfen wird. Die Sonne kommt zwischen den Wolken hervor. Ganz klar, wir sind im Auge des Tiefs. Jetzt wird das Tief weiter über uns nach Nordost ziehen und wir müssen irgendwie nach Süden kommen. Südlich des Auges weht der Wind aus West! Und tatsächlich, immer öfter bleibt die Spitze des Windex kurz in Richtung Südwest stehen, bis sie wieder durch die Schaukelei des Bootes herumgerissen wird. Ein Blick aufs Wasser zeigt es auch: Ganz leichter Südwest-Wind! Dieser neue Wind lässt sich nicht lange bitten. Ich rolle den Yankee aus, setze die Fock dazu und mit achterlichem Wind geht es über die immer noch von vorn anrollenden alten Wellen. Bald sind 4, dann 5 Bft erreicht. Die Sonne verschwindet jetzt wieder und es ist toll zu beobachten, wie sich die zwei vorherrschenden Wellensysteme überlagern und gegeneinander „ankämpfen“. Das alte, große wird ohne Nahrung immer schwächer und das neue, junge, vom Wind getrieben,wird immer stärker. Am Nachmittag müssen auf GAVDOS schon wieder Segel gerefft werden, der Wind nimmt zu, es könnte Sturm geben. Wir werden die ganze Kraft des Tiefs auf seiner Südseite abbekommen. Aber endlich segeln wir in die richtige Richtung! Und zwar flott! Ich koche uns noch eine Pasta, doch bevor wir essen können, muss bereits das Groß ganz weggenommen werden. Ich sichere es gut am Baum mit einer schweren Leine. Alles ist fest, verzurrt, dicht, aufgeklart. Es geht hinein in die Nacht, nur ein winziges Stück vom Yankee zieht uns mit Höchstgeschwindigkeit voran. Der Wind und vor allem die Wellen werden so stark, dass wir den Niedergang dichtmachen, im Boot drinnen bleiben und abwarten. Innen hat man das Gefühl mit enormer Geschwindigkeit über das Wasser zu rasen. Gleichzeitig rollt das Boot von Seite zu Seite. Vor den schweren Bullaugen erscheint immer abwechselnd schwarzes Wasser, weißer Schaum und Gischt und der schwarze Himmel. Dann rollt GAVDOS wieder zurück bis sie Wasser auf ihr Seitendeck schaufelt. Hin und wieder kracht eine Welle mit einem einzigen Knall und großer Erschütterung an ihre Seite, doch die Windfahnen-Selbststeueranlage hält uns hervorragend auf Kurs. Nach ein, zwei besonders heftigen Breitseiten springe ich angeleint ins Cockpit und ändere unseren Kurs um die Seen noch mehr von achtern zu nehmen. Jetzt ist es besser, doch draußen nehmen Wind und Wellen weiter zu. Ich sitze verkeilt am Kartentisch, die Beine quer hinüber zum Niedergang gestemmt. Auf einmal gibt es einen Knall, einen Schlag, nochmals viel stärker als zuvor. Johannes springt auf, wir schauen uns kurz an. Was war das? Kollission? Durch die Ritzen am Niedergang strömt Wasser, aber GAVDOS ist nicht am Bug eines Schiffes zerschmettert. Kurz ist es seltsam ruhig, man hört das Wasser an Deck und im Cockpit abfließen. „Irgendwelche Schäden?“ frage ich und wir hangeln uns nach vorn, inspizieren Luken und das Skylight. „Nein, sieht nicht so aus“ sagt Johannes. Unglaublich, aber durch die Dichtungen der fest verschraubten massiven Schiffs-Bullaugen sind kleine Wasserspritzer mit dem gewaltigen Aufschlag hereingeschossen. Alle Bullaugen sind ganz geblieben, sie haben spezialgehärtetes Glas. Dann geht unsere Sturmfahrt durch die Nacht weiter wie zuvor.
Kein schöner Blick nach achtern, Wolken und starker Gegenwind - ® Egmont M. Friedl
Langsamer Empfang einer Wetterkarte auf See - ® Egmont M. Friedl
20 Tage zu den Azoren
Auf jedes schlechte Wetter folgt gutes Wetter - das darf man nie vergessen - und in den nächsten Tagen liegen wir schon wieder faul auf den Cockpitbänken in der Sonne und blicken achteraus in die anrollenden hohen, aber nunmehr friedlichen Wellen. Kein einziges Schiff oder anderes Boot haben wir seit New York gesehen, nur endloses Blau. So vergeht eine weitere Woche in der wieder die Frage was wir uns zum Essen machen die wichtigste Entscheidung des Tages wird. Erst als wir in freudiger Erwartung schon die Seekarte der Azoren hervorgekramt haben, frischt es nochmal etwas auf. Am 20. Tag unserer Fahrt kommt die Insel Fajal in Sicht. Unglaublich intensiv wirkt das Grün der Wiesen und Felder. Wir legen in Horta an, einem freundlichen, ruhigen Hafen, bekannter Anlaufpunkt für Fahrtensegler aus aller Welt. Es ist höchst angenehm sich hier ins Cafe zu setzen und eine Zeit lang gar nichts zu tun, während GAVDOS sicher vertäut im Hafen liegt. Für meinen Freund ist die Zeit allerdings knapp geworden, ihn ruft die Heimat und Johannes nimmt einen Flieger zurück nach Deutschland.
Nach 20 Tagen wieder grünes Land, die Azoren - ® Egmont M. Friedl
Ankunft in Horta, Insel Fajal - ® Egmont M. Friedl
Einhandsegeln und fliegende Tintenfische
Das Anstrengenste beim Einhandsegeln ist, dass man nicht länger als 20 bis 30 Minuten schlafen kann. Man kann schon, aber ohne Radarwarngerät oder AIS ist es nicht ratsam wegen der Kollissionsgefahr mit einem anderen Schiff. Von Horta segele ich nach Ponta Delgada auf der rund 150 Seemeilen weiter östlich gelegenen Azoreninsel Sao Miguel. Hier bleibe ich nur eine Nacht, dann werfe ich die Leinen los für die restlichen 800 Seemeilen nach Lissabon. Bald schon muss ich erneut gegen einen Nordost mit 6 Bft anlegen, habe das dritte Reff eingebunden und viel vom Yankee weggerollt. GAVDOS macht sich gut und marschiert voran, es regnet immer wieder kurz. Diesem zweifelhaften „Wetterglück“ begegne ich mit frischem Chorizo piccante und einem halben Laib Käse von den Azoren. Aber keine Pflaumen! Denn Käse mit Pflaumen von den Azoren können einem Einhandsegler den Magen verdrehen und den Verstand rauben, wie einer der ganz Großen berichtet… (J. Slocum). Neun Tage bin ich unterwegs, bis ich das Festland auf der anderen Seite des Atlantiks erreiche. Auch zwei, drei Tage völliger Flaute waren dabei, in denen nicht der leiseste Hauch die Wasseroberfläche kräuselte. An einem Morgen entdeckte ich einen kleinen, toten Kalmar oben auf dem Aufbau. Wie kam der dahin? Klettern kann der nicht und die See war ruhig. Lange Zeit konnte ich es mir nur so erklären, dass ein Delfin ihn zu mir hinauf geworfen haben muss. Erst vor kurzem bin ich dahintergekommen, dass Kalmare fliegen können. Das ist kein Witz, sie steigen wie fliegende Fische über die Wasseroberfläche. Allerdings segeln oder flattern sie nicht, sondern haben Raketenantrieb: Sie pressen einen Wasserstrahl aus und fliegen per Rückstoßprinzip! Als ich meinen Decks-Kalmar entdeckte, wusste ich das aber noch nicht und vertrieb mir die Zeit mit immer unwahrscheinlicheren Theorien.
Wenn nach einer solchen Flaute das silbrig spiegelnde, glatte Wasser wieder tiefblau wird, weil der Wind wieder darüber streicht, sich die Segel füllen und das schwere Boot in Fahrt kommt, sich leicht und angenehm auf die Seite legt und die Bugwelle zu rauschen beginnt, dann ist es wie ein Wunder. Man spürt wie auch die eigene Kraft zurückkehrt und gerät einfach in Hochstimmung. So rausche ich die letzten Tage mit bester Geschwindigkeit an einem kräftigen Nordwind auf die portugiesische Küste zu. Dann steigt der Meeresboden an, statt tausenden werden es hunderte Meter Tiefe, die Wellen bekommen einen anderen, küstennahen Charakter, ich erreiche den Kontinentalsockel, Frachter ziehen aufgereiht wie an einer Kette quer vor mir nach Nord und Süd, das bekannte Cabo Raso kommt in Sicht, dann immer mehr vom Land, die Ansteuerung in den Tejo, die ich kenne, der Torre Belem, Menschen auf den Straßen, das Entdecker-Denkmal mit Heinrich, dem Seefahrer, bis ich mit einer Leine in der Hand auf den Steg springe und mein Boot mit dem europäischen Festland verbinde.
So geht das Abenteuer der Atlantiküberquerung in Lissabon glücklich zu Ende, doch nicht die Reise der GAVDOS. Was ist noch anstrengender als Einhandsegeln? Richtig, allein segeln mit Kindern an Bord! Die Kleinen turnen ausgelassen und viel zu unerschrocken herum, was den Papa einige Nerven kostet. Lifelines sind bei Kindern oberstes Gebot! So steuere ich nach einer kurzen Unterbrechung GAVDOS zusammen mit meinen fünf und sieben Jahre alten Kindern weiter nach Süden. Mit vielen Stopps geht es um das Kap Sao Vincente, weiter durch die Straße von Gibraltar und ins Mittelmeer, wo wir im nächsten Sommer eine wunderbare Zeit in ungezählten Häfen, an Stränden und Ankerplätzen verbringen: Alicante, Ibiza, Formentera, Mallorca, Südfrankreich, Cote d’Azur, Ligurien, Korsika und Sardinien. Zwei Jahre nach der Atlantiküberquerung wird es Zeit, GAVDOS wieder zu verkaufen. Ein altes Boot von den USA in die EU zu importieren mit allen CE-Zertifikationen ist allein schon ein bürokratisches Abenteuer mit unsicherem Ausgang. Doch das wird man nach geglücktem Abschluss schnell abhaken. Nicht so die Fahrt über den Atlantik – die bleibt fürs Leben unvergesslich.
Kurzporträt der GAVDOS
Typ: Doppelender, Kutter mit Bugspriet
Modell: Westsail 32
Design: W.I.B. Crealock, nach Plänen von Atkins /Colin Archer
Werft: Westsail Corp.
Baujahr: 1976
Rumpfmaterial: GFK
Länge: 9,80 Meter
Breite: 3,35 Meter
Tiefgang: 1,50 Meter
Verdrängung: 10 Tonnen
Ballast: 3,2 Tonnen
Segelfläche: 70 qm
Motor: Volvo Diesel 27 PS
Die Westsail 32 ist ein sehr bekannter Klassiker, man kann sagen ein "Kult-Boot" in den USA. Bill Crealock hat die Rumpflinien fast unverändert von Colin Archer bzw. William Atkin übernommen. Der Rumpf der Westsail 32 gilt als einer der stärksten jemals gebauten GFK Rümpfe. Die Ausführung und die Qualität des Ausbaus variieren stark. Gavdos hatte einen sehr schönen und geschmackvollen Custom-Ausbau. An Deck dieses Klassikers findet sich viel schwere Bronze und massives Teakholz.
Autorenporträt
Egmont M. Friedl ist Buchautor, Rigger, Segler, Skipper und Bootsbauer. Er hat hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht, ist aber auch privat viel mit seinem Boot unterwegs. Herr Friedl hat zahlreiche empfehlenswerte Publikationen veröffentlicht und hat einen Online-Shop, in dem man Spleißwerkzeug, Takelbedarf, Tauwerkschäkel, Tauwerk, Spleißarbeiten, Bücher und DVDs erwerben kann. Herr Friedl gibt zudem Spleißkurse und Workshops. Weitere Informationen können Sie unter www.emf-sail.com finden.
Möchten Sie Ihr eigenes Abenteuer beginnen? Dann suchen Sie jetzt nach dem passenden Boot auf www.Boatshop24.com.
Möchten Sie noch mehr spannende Segelgeschichten erfahren? Dann folgen Sie uns auf:
Fotos und Artikel: ® Egmont M. Friedl